Und so wurde im Oktober des Jahres 1987 im zweiten Stock der
CRB ein Büro freigeräumt und mit acht jungen Damen besetzt, deren Aufgabe darin
bestand, Anrufe entgegenzunehmen und die Meinung der Leser einzuholen. Die Frage
lautete: Soll Mami Jane sterben? Von den acht jungen Damen waren vier
Angestellte der CRB, zwei hatte das Arbeitsamt geschickt, eine war die Nichte
des Verlagsleiters. Die achte, eine junge Frau um die Dreißig aus Pomona,
absolvierte hier ein Praktikum, das sie für die richtige Antwort bei einem
Radioquiz gewonnen hatte ("Was haßt Ballon Mac am meisten auf der Welt?"
"Zahnsteinentfernen."). Sie lief immer mit einem kleinen Kassettenrecorder
herum. Ab und zu schaltete sie ihn an und sprach etwas hinein. Sie hieß Shatzy
Shell. Um 10 Uhr 45 des zwölften Tages der Umfrage - der Tod von Mami Jane war
mit 64 zu 30 Prozent fast beschlossene Sache (die restlichen sechs Prozent waren
der Meinung, daß die ganze Mannschaft zum Teufel gehen solle, und hatten
lediglich angerufen, um das mal loszuwerden) - klingelte bei Shatzy Shell zum
einundzwanzigstenmal das Telefon; sie notierte die Zahl 21 auf den vor ihr
liegenden Fragebogen und nahm den Hörer ab. Dann entspann sich folgende
Unterhaltung.
2
|
|
|
|
|
|
»CRB, guten Tag.« »Guten Tag,
ist Diesel schon da?«
»Wer?« »Okay, dann ist er noch nicht da...«
»Sie sprechen mit dem Verlagshaus CRB.« »Ja, weiß ich.« »Sie müssen
sich verwählt haben.«
»Nein, nein, ist schon richtig, hören Sie...«
»Entschuldigung...« »Ja?« »Hier ist CRB, wir machen eine Umfrage zum
Thema Soll Mami Jane sterben?.«
»Danke, weiß ich.« »Wären Sie so
freundlich, mir Ihren Namen zu sagen?«
»Mein Name tut nichts zur Sache...«
»Den müßten Sie mir aber schon nennen.« »Okay, okay... Gould... Mein
Name ist Gould.«
»Herr Gould.« »Ja, Herr Gould. Dürfte ich jetzt
vielleicht -«
»Soll Mami Jane sterben?« »Wie bitte?« »Ich hätte gern
Ihre Meinung... ob Mami Jane sterben soll oder nicht.«
3
|
|
|
|
|
|
»Aber ich -« »Sie wissen doch, wer Mami Jane ist?«
»Ja, natürlich, aber...« »Schauen Sie, ich möchte von Ihnen nur wissen,
ob -«
»Würden Sie mir bitte einen Moment zuhören?«
-»Selbstverständlich.« »Gut. Tun Sie mir einen Gefallen und schauen Sie
sich kurz um.«
»Ich?« »Ja.« »Hier?« »Ja, im Zimmer, seien Sie
doch bitte so nett.«.
-»Okay, ich schaue mich um.« »Gut. Sehen Sie
zufällig einen kahlrasierten jungen Mann mit einem sehr großen Kerl an der Hand,
einem wirklich großen Kerl, einer Art Riese, mit unglaublich großen Schuhen und
einer grünen Jacke?«
»Nein, ich glaube nicht.« »Sind Sie sicher?«
»Ja, ich bin sicher.« »Gut. Dann sind sie noch nicht da.«
4
|
|
|
|
|
|
»Nein.« »Okay, aber eins müssen Sie wissen.« »Ja?«
»Die beiden sind nicht böse.« »Nein?« »Nein. Wenn sie da sind,
werden sie erst mal alles kurz und klein schlagen, und mit größter
Wahrscheinlichkeit werden sie sich Ihr Telefon schnappen und Ihnen die Schnur um
den Hals wickeln oder irgendwas in der Art, aber sie sind nicht böse, wirklich
nicht, bloß -«
»Herr Gould...« »Ja?« »Darf ich fragen, wie alt Sie
sind?«
µDreizehn.« »Dreizehn?« »Zwölf... Um genau zu sein, zwölf.«
»Hör mal, Gould, ist deine Mama vielleicht irgendwo in der Nähe?« »Meine
Mama ist vor vier Jahren abgehauen, jetzt lebt sie mit einem Professor zusammen,
der Fische studiert, die Lebensgewohnheiten der Fische, ein Ethologe, um genau
zu sein.«
5
|
|
|
|
|
|
-»Tut mir leid.« »Das muß
Ihnen nicht leid tun. So ist das Leben, da kann man nichts machen.«
»Wirklich?« »Wirklich. Meinen Sie nicht?« »Doch... wahrscheinlich...
Sicher bin ich nicht, aber ich denke schon.«
»Es ist traurig, aber so ist
es.«
»Du bist zwölf Jahre alt, sagst du?« »Morgen werde ich dreizehn.«
»Phantastisch.« »Phantastisch.« »Herzlichen Glückwunsch, Gould.«
»Danke.« »Du wirst sehen, es ist phantastisch, dreizehn zu sein.«
»Hoffentlich.« »Ich wünsche dir wirklich alles Gute.« »Danke.«
»Dein Vater ist nicht zufällig in der Nähe?« »Nein. Der ist arbeiten.«
»Verstehe.« »Mein Vater arbeitet beim Militär.«
6
|
|
|
|
|
|
»Phantastisch.« »Finden Sie immer alles so phantastisch?«
»Wie?« »Finden Sie immer alles so phantastisch?« »Ja... ich glaube
schon.«
»Phantastisch.« »Das heißt... meistens.« »Was für ein
Glück.«
»Selbst die merkwürdigsten Situationen.« »Ich glaube, dann haben
Sie wirklich Glück.«
»Einmal war ich in einer Imbißstube an der Autobahn,
gleich vor der Stadt, ich hielt an der Imbißstube, ging hinein und stellte mich
an; an der Kasse war ein Vietnamese, der praktisch nichts verstand, deshalb ging
es nicht weiter; die Leute sagten ›Einen Hamburger‹, und er fragte ›Was?‹,
vielleicht war es ja sein erster Arbeitstag, keine Ahnung; ich hab mich ein
bißchen in der Imbißstube umgeschaut, da standen fünf oder sechs Tische, und
überall saßen Leute und aßen, so viele verschiedene Gesichter, und jeder hatte
etwas anderes vor sich stehen, ein Kotelett, ein belegtes Brötchen, Chili con
carne, alle aßen, und jeder war so gekleidet, wie es ihm gefiel, jeder war am
Morgen aufgestanden und hatte sich etwas
7
|
|
|
|
|
|
ausgesucht, die rote Bluse, das enganliegende Kleid, was ihm
eben gefiel; jetzt waren sie hier, und jeder hatte ein Leben hinter sich und
eins vor sich, sie waren alle nur vorübergehend hier, am nächsten Tag würde das
Ganze wieder von vorn beginnen, die blaue Bluse, das lange Kleid; bestimmt lag
die Mutter der sommersprossigen Blondine mit völlig verrückt spielenden
Blutwerten in irgendeinem Krankenhaus, aber die Blondine war hier, schob die
etwas angebrannten Pommes frites an den Tellerrand und las in einer Zeitung, die
an einem Salzstreuer in Form einer Zapfsäule lehnte; einer war wie ein
Baseballspieler gekleidet, obwohl er bestimmt seit Jahren kein Baseballfeld mehr
betreten hatte, er war mit seinem Sohn da, einem kleinen Jungen, den er
andauernd mit leichten Schlägen an den Kopf und gegen den Hinterkopf traktierte,
jedesmal schob sich der Junge seine Mütze wieder zurecht, eine Baseballmütze,
und zack!, gab ihm der Vater noch eine Kopfnuß, und das beim Essen, unter einem
an der Wand hängenden Fernseher, der nicht lief, dazu der Lärm, der in Schüben
von der Straße hereindrang, und in der Ecke saßen zwei sehr elegante Männer in
Grau, man konnte sehen, daß einer von ihnen weinte, es war verrückt, aber er
weinte, vor einem Steak mit Kartoffeln weinte er lautlos vor sich hin, und der
andere, der ebenfalls ein Steak vor sich ste-hen hatte, zuckte mit keiner
Wimper, aß ganz normal weiter, aber irgendwann stand er auf, ging zum
Nebentisch, nahm die Ketchupflasche, ging an seinen Platz zurück und goß, darauf
bedacht, seinen grauen Anzug nicht zu bekleckern,
8
|
|
|
|
|
|
dem anderen, der weinte, Ketchup auf den Teller und flüsterte
ihm etwas zu, ich weiß nicht, was, dann schraubte er die Flasche zu und aß
weiter; die beiden da in der Ecke und das ganze Drumherum, auf dem Boden klebte
ein Amarenaeis, und an der Toilettentür hing ein Schild mit der Aufschrift Außer
Betrieb, ich sah das alles, und natürlich konnte man dazu nur sagen: Zum Kotzen,
Kinder, zum Kotzen traurig das Ganze, aber als ich da in der Schlange stand und
der Vietnamese immer noch nichts kapierte, dachte ich: Gott, ist das schön, und
ich mußte sogar fast lachen, mein Gott, ist das alles schön, alles, wie es da
ist, selbst der kleinste plattgetretene Krümel auf der Erde und die dreckigste
Serviette, ohne zu wissen, warum, wußte ich, daß all das verdammt schön war.
Verrückt, was?«
»Komisch.« »Ist ein bißchen peinlich, das zu erzählen.«
»Wieso?« »Ich weiß auch nicht... Normalerweise erzählen die Leute so was
nicht...«
»Mir hat's gefallen.«
9
|
|
|
|
|
|
- »Aber nein..." »Doch,
wirklich, vor allem das mit dem Ketchup...«
»Er hat die Flasche genommen und
dem anderen ein bißchen drübergegossen...«
»Genau.« »Ganz in Grau.«
»Seltsam.« »Einfach so.« »Einfach so.« »Gould?« »Ja?«
»Schön, daß du angerufen hast.« »He, nein, warte...« »Ich bin noch
dran.«
»Wie heißt du?« »Shatzy.« »Shatzy.« »Ich heiße Shatzy
Shell.«
»Shatzy Shell.« »Ja.« »Und da ist wirklich niemand, der dir
jetzt eben die Telefonschnur um den Hals wickelt?«
»Nein.« »Aber wenn
sie kommen, denkst du dran, daß sie nicht böse sind, ja?«
»Sie werden nicht
kommen, du wirst schon sehen.«
10
|
|
|
|
|
|
»Darauf würde ich mich nicht verlassen, die kommen...«
»Warum sollten sie, Gould?« »Diesel vergöttert Mami Jane. Und er ist
zwei Meter siebenundvierzig groß.«
»Phantastisch.« »Kommt drauf an. Wenn
er sehr wütend ist, ist es überhaupt nicht phantastisch.«
»Und ist er gerade
sehr wütend?«
»Das wärst du auch, wenn jemand mittels einer Meinungsumfrage
Mami Jane umbringen will und Mami Jane für dich das Ideal einer Mutter ist.«
»Es ist nur eine Meinungsumfrage, Gould.« »Diesel hält das für einen
Mordsschwindel. Die haben schon vor Monaten beschlossen, sie umzubringen, und
wollen so nur ihr Gesicht wahren.«
»Vielleicht irrt er sich ja.« »Diesel
irrt sich nie. Er ist ein Riese.«
»Wie riesig ist der Riese denn?« »Sehr
riesig.«
»Ich war mal mit einem zusammen, der konnte einen Ball in den Korb
legen, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen.«
»Wirklich?« »Aber er
arbeitete als Kartenabreißer im Kino.«
11
|
|
|
|
|
|
»Und hast du ihn geliebt?« »Was ist das denn für eine
Frage, Gould?«
»Du hast gesagt, daß du mit ihm zusammen warst.« »Ja, wir
waren zusammen. Zweiundzwanzig Tage.«
»Und dann?« »Ach, ich weiß auch
nicht... Es war alles ganz schön kompliziert, verstehst du?«
»Ja... Für
Diesel ist auch alles ganz schön kompliziert.«
»So ist das eben.« »Sein
Vater mußte ein Klo nach seinen Maßen für ihn anfertigen lassen, das hat ein
Vermögen gekostet.«
»Ich sag ja: Es ist alles ganz schön kompliziert.«
»Stimmt. Als Diesel versuchte, zur Schule zu gehen, unten in die
Taton-Schule, kam er morgens -«
»Gould?« »Ja.« »Ich muß kurz
unterbrechen, Gould.«
»Okay.« »Bleib dran, ja?« »Okay.«
12
|
|
|
|
|
|
Shatzy Shell legte das Gespräch in die Warteschleife. Dann
wandte sie sich dem Mann zu, der vor ihrem Tisch stand und sie beobachtete. Es
war der Chef der Abteilung Vertrieb und Marketing. Er hieß Bellerbaumer. Er war
einer von denen, die am Brillengestell knabbern.
»Herr Bellerbaumer?«
Herr Bellerbaumer räusperte sich. »Junge Frau, Sie reden über Riesen.«
»Stimmt." »Sie telefonieren seit zwölf Minuten und reden über Riesen.«
»Zwölf Minuten?« »Gestern haben Sie sich siebenundzwanzig Minuten lang
fröhlich mit einem Börsenmakler unterhalten, und am Ende wollte er Sie
heiraten.«
»Er wußte nicht, wer Mami Jane ist, ich mußte ihm -« »Und am
Tag zuvor haben Sie die Leitung für eine Stunde und elf Minuten blockiert, um
irgendeinem verdammten Bengel die Hausaufgaben zu korrigieren, und dann hat der
Ihnen zur Antwort gegeben: Warum laßt ihr nicht Ballon Mac krepieren?«
»Vielleicht gar keine schlechte Idee, denken Sie mal drüber nach.«
»Junge Frau, dieses Telefon ist Eigentum der CRB, und Sie werden
ausschließlich dafür bezahlt, einen einzigen lächerlichen Satz zu sagen: Soll
Mami Jane sterben?«
13
|
|
|
|
|
|
»Ich tue mein Bestes." »Ich
auch. Und deshalb entlasse ich Sie, junge Frau.«
»Bitte?« »Ich sehe mich
gezwungen, Sie zu entlassen, junge Frau.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Bedaure.« »...« »...« »...« »...« »Herr Bellerbaumer?«
»Bitte?« »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das Gespräch noch beende?«
»Welches Gespräch?« »Das Gespräch. Da wartet noch ein Junge in der
Leitung.«
»...« »...« »Beenden Sie das Gespräch.«
14
|
|
|
|
|
|
»Danke.« »Bitte.« »Gould?«
»Ja?« »Ich glaube, ich muß Schluß machen, Gould.« »Okay.« »Ich
bin soeben entlassen worden.«
»Phantastisch.« »Da bin ich nicht so
sicher.«
»Wenigstens drücken sie dann nicht dir die Luft ab.« »Wer?«
»Diesel und Poomerang.« »Der Riese?« »Der Riese ist Diesel.
Poomerang ist der andere, der mit der Glatze. Er ist stumm.«
»Poomerang.«
»Ja. Er ist stumm. Er spricht nicht. Er hört uns, aber er spricht nicht.«
»Man wird die beiden am Eingang aufhalten.« »Normalerweise lassen sich
die beiden nicht aufhalten.«
»Gould?« »Ja.« »Soll Mami Jane
sterben?«
15
|
|
|
|
|
|
»Von mir aus können alle zum Teufel gehen.« »Okay: ›Ich
weiß nicht.‹«
»Verrätst du mir was, Shatzy?« »Ich muß jetzt Schluß
machen.«
»Nur eine Sache.« »Was denn?« »Diese Imbißstube...«
»Ja...« »Ich dachte nur gerade... Die scheint gar nicht so übel zu
sein...«
»Geht so...« »Ich dachte nur, daß ich da gern meinen Geburtstag
feiern würde.«
»Wie meinst du das?« »Mein Geburtstag... der ist
morgen... Wir könnten alle zusammen dort essen, vielleicht sind die beiden in
Grau ja immer noch da, die mit dem Ketchup.«
»Eine komische Idee, Gould.«
»Du, ich, Diesel und Poomerang. Ich zahle.« »Ich weiß nicht.« »Das
ist eine gute Idee, ganz sicher.«
»Vielleicht.« »85567418.« »Was ist
das?«
16
|
|
|
|
|
|
»Meine Nummer, wenn du Lust hast, rufst du mich an, okay?«
»Du wirkst nicht wie dreizehn.« »Genaugenommen werde ich erst morgen
dreizehn.«
»Stimmt ja.« »Also abgemacht.« »Ja.« »Abgemacht.«
»Gould?« »Ja?« »Tschüs.« »Tschüs, Shatzy.« »Tschüs.«
Shatzy Shell drückte auf die blaue Taste und trennte die Verbindung. Sie
brauchte eine Weile, um ihre Sachen in die Tasche zu packen, eine gelbe Tasche
mit der Aufschrift Rettet den Planeten vor lackierten Fußnägeln. Sie nahm auch
die Bilderrahmen mit den Fotos von Walt Disney und Eva Braun mit. Und den
kleinen Kassettenrecorder, den sie immer bei sich hatte. Ab und zu schaltete sie
ihn an und sprach etwas hinein. Die sieben anderen jungen Frauen schauten ihr
schweigend zu, während die Telefone ins Leere klingelten und wertvolle
Ratschläge zu Mami Janes Zukunft ungehört blieben. Was Shatzy Shell zu sagen
hatte, sagte sie, während sie die Turnschuhe aus- und die Stöckelschuhe
anzog.
17
|
|
|
|
|
|
»Nur damit ihr's wißt: Gleich
kommen ein Riese und ein Stummer mit Glatze durch die Tür, sie werden alles kurz
und klein schlagen und euch die Telefonschnüre um den Hals wickeln. Der Riese
heißt Diesel, der Stumme Poomerang. Oder umgekehrt, ich weiß nicht mehr genau.
Auf jeden Fall sind sie nicht böse.«
A.B. aus dem Italienishen von
Anja Natterfort
18
|
|